Ich bin noch immer im Ländle, diesmal in Heilbronn. In einer Kneipe lernten wir uns kennen. Wir redeten angeregt über die Fotografie. Ich befand mich zu dieser Zeit in einer Ausbildung zur Fotografin in Stuttgart. Er sagte, er sei in der Werbung oder so ähnlich tätig. Wir tranken beide Alkohol, später auch noch Kaffee und Wasser. Er wollte mir seine Fotos bei sich zuhause zeigen, damit ich einen professionellen Blick darauf werfen könne. Wir frotzelten herum, ja, klar, Briefmarkensammlung lässt grüßen. Wir waren uns bisher in dem für großstädtische Verhältnisse doch überschaubaren kleinen Kaff noch nie über den Weg gelaufen. Ich erzählte ihm von der Umtriebigkeit meiner Eltern und unseren zahlreichen Umzügen. Ich fühlte mich wohl in seiner Gegenwart.
Wir fuhren irgendwann zu ihm nach Hause. Dort zeigte er mir seine Fotos und schenkte uns in der Küche ein Glas Sekt ein. Ich wartete im Wohnzimmer. Mir wurde zunehmend schwindelig, meine Zunge schwer. Ich erinnere noch, wie er den Fernseher anmachte, etwas von einem Porno sagte, dann meinte, wir könnten auch unseren eigenen drehen. Ich verneinte – und dann kam die Dunkelheit. Ich sah mich nackt auf einer Matratzenlandschaft liegen. Er hatte nur seine Hose ausgezogen und sagte irgendwas mit Kondom, schützen. Es wurde wieder schwarz um mich. Er lag auf mir, vergewaltigte mich mehrmals. Es kam kein Ton aus meinem Mund, meine Muskeln gehorchten mir nicht. Er setzte zwischendurch immer wieder ein Glas Sekt an meinen Mund. Eine tiefe schwarze Nacht legte sich über die Szenerie. Irgendwann wurde ich wach, ich war nackt und fror. Ich suchte meine Sachen zusammen, schaute mich um. Er war nicht zu sehen. Ich ging langsam durch die Wohnung. Er lag schlafend in seinem Bett, ganz friedlich und selig sah er aus. Kurz dachte ich daran, ihn zu schütteln, vielleicht sogar zu erwürgen. Mein Kopf dröhnte, ein schaler Geschmack im Mund. Dann rannte ich aus dieser Wohnung, mitten auf die Straße. Es war kalt und hell. Ein neuer Tag war angebrochen. Ich überlegte, ob ich mir den Straßennamen und die Hausnummer merken sollte. Mir fehlte die Kraft. Ich wollte nur weg. Ich stieg in ein Taxi und ließ mich nach Hause fahren. Ich saß stumm und starr auf der Rückbank. Zuhause sah ich im Badezimmer zum ersten Mal mein Spiegelbild. Verschmierte Schminke, meine Augen groß und einsam. Sofort setzte ein Gedankenkarussel ein: Warum bist du mitgegangen, warum hattest du einen Minirock an, warum hast du was getrunken, waren das K.O.-Tropfen, warum war ich so naiv, wird mir irgendjemand glauben, ich kann es doch selbst kaum glauben? Ein Teil von mir dachte sicherlich auch, es verdient zu haben. Ich kannte nur aggressive und übergriffige männliche Bezugspersonen, also nur eine weitere konsequente und normale Erfahrung in meinem Leben. Ich hatte keine Adresse, keinen Namen, eine Anzeige damit vollkommen zwecklos. In den verbleibenden 3 Jahren in Heilbronn sah ich diesen Mann nie wieder. Ich verdrängte und vergaß das Ereignis nicht, ich lebte mit tiefen unbenannten Rissen einfach weiter.
Das Wort Schuld stammt vom indogermanischen "skulan" ab und trug die Bedeutung von Verpflichtung, später auch in Bezug auf finanzielle Verpflichtungen - den Schulden. Unter kirchlichem Einfluss erweiterte sich die Bedeutung im Althochdeutschen zu einer Verpflichtung zur Buße. Das Konzept von Schuld und Sühne gedieh auf dem Boden von Angst und Unsicherheit. Das Wort Scham entstammt dem indogermanischen Wort "skama". Ursprünglich bedeutete dies zudecken, bedecken oder etwas verbergen. Die kirchliche Auslegung des biblischen Sündenfalls, die Erkenntnis von Gut und Böse durch die Versuchung und den Ungehorsam, von der Frucht des Baumes der Erkenntnis zu essen, ließen Angst und Reue aus dem Gewahrwerden der eigenen Nacktheit aufkommen. Das Ineinandergreifen von Schuld und Scham, die Entwicklung eines Schamgefühls beim Verstoß gegen eine Norm und die Übertragung des Schambereichs auf die Geschlechtsteile des Menschen waren geboren.
Der Sündenfall als tiefer Fall auf den harten Boden der Tatsachen scheint vielmehr ein Glücksfall zu sein. Gutes vom Bösen unterscheiden zu können und zu erkennen, dass ich nur mir selbst verpflichtet bin, jederzeit bereit, mich und mein Leben mit schützenden Gedanken zu bedecken.
---
#AllInUndMehr
#SündenfallNeuGedacht
#SpracheAlsWaffe
#WorteGegenGewalt
#BreakingTheSilence
#ShameOffMe
#MeTooGermany
#WordOriginsMatter
#ThisIsNotConsent
#SexuelleGewalt
#Stuttgart
#Heilbronn
#Fotografie
#Werbung
#Ländle
#Storylenses
#byEwa
#AllInReihe
Gefällt mir Wird geladen …